Internationale Unternehmensberatung in Fragen des Zoll-, Außenwirtschafts-, Warenursprungs- und Präferenz- sowie Verbrauchssteuerrechts
Gerichtliche Entscheidungen und Einzelerlasse zu Einreihungsfragen:
Leitsatz und Auszug aus dem Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 19. März 2021, Az: 4 K 139/18 – Tarifierung eines als Zahnfüllstoff verwendeten Kapselsystems
Leitsatz
- Die AV 1 der Kombinierten Nomenklatur (KN) wird durch die Anmerkungen zu Abschnitt VI KN verdrängt.
- Die Anmerkung 3 zu Abschnitt VI KN geht in Bezug auf Warenzusammenstellungen den Anmerkungen 1 und 2 zu Abschnitt VI KN vor.
- Die Kriterien der Leitlinien der Kommission vom 11.04.2013 (ABl. Nr. C 105/1) gelten nicht für Warenzusammenstellungen im Sinne der Anmerkung 3 zu Abschnitt VI KN.
- Der Begriff der Warenzusammenstellung im Sinne der Anmerkung 3 zu Abschnitt VI KN setzt nicht zwei verschiedene, voneinander trennbare Waren voraus.
Die Beteiligten streiten um die Einreihung eines Erzeugnisses, das als Zahnfüllstoff verwendet wird.
Bei der Ware handelt es sich um ein Silberamalgam, das als Zahnfüllstoff verwendet wird. Es liegt in Form eines Kapselsystems vor, in dem die exakt dosierten Komponenten (A, B, C und D) gemischt und zu einer Zahnfüllung geformt werden. Zusammen mit der Gebrauchsinformation ist es zum Einzelverkauf aufgemacht. Die Klägerin regte eine Einreihung der Ware in die Unterposition 3006 4000 der Kombinierten Nomenklatur (KN) an.
Mit verbindlicher Zolltarifauskunft vom 05.11.2015 (XXX) reihte das beklagte Hauptzollamt die Ware nach ihrer Beschaffenheit als Amalgam in die Unterposition 2843 9010 KN ein. In ihrem hiergegen gerichteten Einspruch wandte die Klägerin ein, dass es sich bei der Ware um ein pharmazeutisches Erzeugnis, nämlich um “Zahnzement und andere Zahnfüllstoffe” handele, das in die Codenummer 3006 4000 einzureihen sei.
Im Hinblick auf das Vorbringen der Beteiligten merkt das erkennende Gericht im Einzelnen Folgendes an:
Bei der streitgegenständlichen Ware handelt es sich um ein Erzeugnis, das als Zahnfüllstoff verwendet wird. Im Zeitpunkt der Einfuhr besteht die Ware aus einem Kapselsystem, in dem sich in zwei voneinander getrennten Kammern die beiden für die Verwendung als Zahnfüllstoff erforderlichen Komponenten befinden, nämlich zum einen Legierungspulver mit einem Anteil von 57,5% am Gesamterzeugnis, bestehend aus A (XXX%), B (XXX%) und C (XXX%), sowie zum anderen flüssiges D mit einem Anteil von 42,5% am Gesamterzeugnis. Bei der Verwendung der Ware als Zahnfüllstoff im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung werden die beiden exakt dosierten Komponenten gemischt und zu einer Zahnfüllung geformt.
Für die Einreihung der streitgegenständlichen Ware im Zeitpunkt der Einfuhr kommen die Unterpositionen 2843 (Edelmetalle in kolloidem Zustand; anorganische oder organische Verbindungen der Edelmetalle, auch chemisch nicht einheitlich; Edelmetallamalgame) und 7106 (Silber (einschließlich vergoldetes oder platiniertes Silber), in Rohform oder als Halbzeug oder Pulver) in Betracht. Die Konkurrenz zwischen diesen Positionen ist im Streitfall nicht nach den Allgemeinen Vorschriften (AV) für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur, sondern nach den spezielleren Anmerkungen zu Abschnitt VI (= Kapitel 28 bis 38) der Kombinierten Nomenklatur zu lösen. Unter AV 1 heißt es ausdrücklich, dass die nachstehenden Allgemeinen Vorschriften für die Einreihung maßgebend sind, “soweit in den Positionen oder in den Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln nichts anderes bestimmt ist …” Letzteres hat der Unionsgesetzgeber über die Anmerkungen zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur getan.
Den Anmerkungen zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur liegt folgende Systematik zu Grunde: Die Anmerkung 1 ist vor der Anmerkung 2 zu prüfen, was sich aus der Formulierung in Anmerkung 2 “Vorbehaltlich der Anmerkung 1 …” erschließt. Innerhalb der Anmerkung 1 wiederum ist zunächst die Anmerkung A) zu prüfen, bevor eine Prüfung der Anmerkung B) erfolgen kann; arg. “Vorbehaltlich des Buchstabens A) …” (Anmerkung 1 B). Diese Prüfungsreihenfolge wird durchbrochen im Hinblick auf Warenzusammenstellungen im Sinne der Anmerkung 3. Steht – wie hier – eine Warenzusammenstellung in Rede, geht die Anmerkung 3 den Anmerkungen 1 und 2 zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur vor. In der Anmerkung 3 fehlt dann auch der in den Anmerkungen 1 A) und 2 formulierte Vorbehalt (“Vorbehaltlich …”). Dieses Verständnis hat zur Konsequenz, dass im Streitfall eine Prüfung der Anmerkung 3 zu erfolgen hat.
In Anmerkung 3 zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur ist festgeschrieben, dass Warenzusammenstellungen, die aus zwei oder mehreren voneinander getrennten Bestandteilen bestehen, von denen einige oder alle zu diesem Abschnitt gehören, und die erkennbar dazu bestimmt sind, durch Mischen ein Erzeugnis des Abschnitts VI oder VII herzustellen, der für dieses Erzeugnis zutreffenden Position unter der Voraussetzung zuzuweisen sind, dass die Einzelbestandteile:
- a) ohne weiteres Umpacken aufgrund ihrer Aufmachung eindeutig erkennbar dazu bestimmt sind, zusammen verwendet zu werden,
- b) zusammen gestellt werden und
- c) entweder aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihrer entsprechenden Mengen als einander ergänzend erkennbar sind.
Der Begriff der Warenzusammenstellung wird in der Kombinierten Nomenklatur selbst nicht definiert. Allerdings findet der Begriff Warenzusammenstellung bzw. Zusammenstellung Verwendung im Wortlaut einzelnen Positionen bzw. Unterpositionen der Kombinierten Nomenklatur, wie etwa im KN-Code 6308, 8206 und 9503 0070. Nach den Leitlinien zur Einreihung von für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellungen in die Kombinierte Nomenklatur der Europäischen Kommission vom 11.4.2013 (ABl. Nr. C 105/1, im Folgenden: Leitlinien der Kommission), die freilich für das erkennende Gericht nicht bindend sind, bezeichnet der Begriff “für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellung” Warenzusammenstellungen, die
- a) aus mindestens zwei verschiedenen Waren bestehen, für deren Einreihung unterschiedliche Positionen in Betracht kommen,
- b) aus Waren bestehen, die zur Befriedigung eines speziellen Bedarfs oder zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit zusammengestellt worden sind und
- c) so aufgemacht sind, dass sie sich ohne vorheriges Umpacken zur direkten Abgabe an die Verbraucher eignen, z. B. in Schachteln, Kästchen oder auf Unterlagen (vgl. Abs. 1 und 2 der Leitlinie).
Allerdings gelten die vorstehend beschriebenen Kriterien nicht für Warenzusammenstellungen, die in den Anmerkungen der Abschnitte oder Kapitel der Kombinierten Nomenklatur angesprochen werden und konkrete Kriterien beinhalten, wie z. B. die Anmerkung 3 zu Abschnitt VI, die Anmerkung 1 zu Abschnitt VII oder die Anmerkung 3 zu Kapitel 61 (vgl. insoweit auch die Leitlinien der Kommission, Absatz 3, Alternative 2). So liegt der Fall dann auch hier; bei der streitgegenständlichen Ware handelt es sich um eine Warenzusammenstellung im Sinne der Anmerkung 3 zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur mit der Folge, dass die in der Leitlinie der Kommission in Absatz 2 aufgestellten Voraussetzungen einer Warenzusammenstellung im Sinne der Allgemeinen Vorschrift 3 b) keine Anwendung finden. Vielmehr ist zu prüfen, ob die streitgegenständliche Ware die Kriterien einer Warenzusammenstellung im Sinne der Anmerkung 3 des Abschnitts VI der Kombinierten Nomenklatur erfüllt. Diese Prüfung fällt positiv aus:
Das von der Klägerin eingeführte Erzeugnis besteht aus zwei voneinander getrennten Bestandteilen, nämlich zum einen aus der mit Legierungspulver gefüllten Kammer, zum anderen aus der mit D gefüllten Kammer. Die mit dem D gefüllte Kammer ist dem Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur zuzuordnen, scil. der Position 2843. Beide Bestandteile des in Rede stehenden Erzeugnisses sind erkennbar dazu bestimmt, durch Mischen ein Erzeugnis des Abschnitts VI der Kombinierten Nomenklatur herzustellen, wobei an dieser Stelle offenbleiben kann, ob das durch Mischen herzustellende Erzeugnis der Position 2843 oder 3006 der Kombinierten Nomenklatur unterfällt.
Dass – so wie die Klägerin weiter meint – im Streitfall die Anwendbarkeit der Anmerkung 3 des Abschnitts VI der Kombinierten Nomenklatur auch deshalb ausgeschlossen sei, weil nur ein Bestandteil des klägerischen Kapselsystems – scil. die mit D gefüllte Kammer – dem Abschnitt VI zuzuordnen sei, vermag das erkennende Gericht ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Bereits eine Analyse der deutschen Sprachfassung streitet nicht für das Verständnis der Klägerin. Nach dem insoweit klaren und eindeutigen Wortlaut der Anmerkung 3 besteht eine Warenzusammenstellung aus “zwei oder mehreren” voneinander getrennten Bestandteilen. Da die im ersten Halbsatz verwandten Zahlworte “zwei oder mehrere” zu den im zweiten Halbsatz gebrauchten Numeralien “einige oder alle” in Beziehung stehen, lässt die Anmerkung 3 nach dem Verständnis des erkennenden Gerichts eine Deutung zu, dass bei einer Warenzusammenstellung, die aus zwei voneinander getrennten Bestandteilen besteht, auch lediglich ein Bestandteil zu dem Abschnitt VI gehören kann.
Die Einzelbestandteile des von der Klägerin eingeführten Erzeugnisses erfüllen auch die weiteren unter den Buchstaben a) bis c) in der Anmerkung 3 zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur aufgestellten Voraussetzungen: Sie sind ohne weiteres Umpacken aufgrund ihrer Aufmachung eindeutig erkennbar dazu bestimmt, zusammen verwendet zu werden (lit. a); was letztlich auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt wird. Auch werden die Einzelbestandteile – das ist ebenfalls zwischen den Beteiligten unstreitig – zusammen gestellt (lit. b) und sind sowohl aufgrund ihrer Beschaffenheit als auch ihrer entsprechenden Mengen als einander ergänzend erkennbar (lit. c).
Das erkennende Gericht folgt indes nicht der rechtlichen Bewertung der Klägerin, dass die in der Anmerkung 3 zu Kapitel VI der Kombinierten Nomenklatur in Bezug genommenen einzelnen Bestandteile auch tatsächlich einer getrennten Gestellung zugänglich sein müssen, was im Streitfall aufgrund der Aufmachung – scil. der Abfüllung der beiden Stoffe in zwei getrennten Kammern einer Kapsel – nicht der Fall wäre. Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass die Beispiele für eine Warenzusammenstellung in den Leitlinien der Kommission (zumeist) dadurch gekennzeichnet sind, dass die verschiedenen Waren voneinander trennbar und damit auch einer in tatsächlicher Hinsicht getrennten Gestellung zugänglich sind. In der Anmerkung 3 des Kapitels VI der Kombinierten Nomenklatur wird freilich nicht der Begriff “Ware”, sondern der Ausdruck “Bestandteile” verwandt, was zeigt und bereits bemerkt worden ist, dass die Begriffsinhalte der Warenzusammenstellungen in der AV 3 KN einerseits und der Anmerkung 3 des Kapitels VI andererseits nicht identisch sind. Ein Blick in die englische Sprachfassung bestätigt diesen Befund. Während in der Leitlinie der Kommission formuliert ist “consists of at least two different articles”, befindet sich in der Anmerkung 3 die Wendung “Goods put up in sets consisting of two or more separate constituents”. Das erkennende Gericht hält deshalb dafür, dass ein Gestellen im Sinne der Anmerkung 3 lit. b des Kapitels VI auch – wie im Streitfall – gegeben ist, wenn die Einzelbestandteile zwar gemeinsam gestellt werden, jedoch faktisch nicht trennbar sind, ohne die Warenzusammenstellung zu zerstören.
Sind somit die Voraussetzungen einer Warenzusammenstellung im Sinne der Anmerkung 3 des Abschnitts VI der Kombinierten Nomenklatur hinsichtlich des Streitfalls erfüllt, ist die Ware der Position zuzuweisen, die für das Erzeugnis nach dem Mischen zutreffend ist.
Für die Einreihung des nach dem Mischen der beiden Komponenten entstehenden Erzeugnisses kommen zwei Positionen der Kombinierten Nomenklatur in Betracht, nämlich zum einen die Position 2843 (Edelmetalle in kolloidem Zustand; anorganische oder organische Verbindungen der Edelmetalle, auch chemisch nicht einheitlich; Edelmetallamalgame), zum anderen die Position 3006 (Pharmazeutische Zubereitungen und Waren im Sinne der Anmerkung 4 zu Kapitel 30).
Die vorliegend bestehende Konkurrenz zwischen den Positionen 2843 und 3006 ist über die Anmerkungen zu Abschnitt VI der Kombinierten Nomenklatur mit der Folge zu lösen, dass die streitgegenständliche Ware der Position 2843 zuzuweisen ist. In Anmerkung 1 B) des Abschnitts VI ist bestimmt, dass vorbehaltlich des Buchstabens A) Erzeugnisse, die der Warenbeschreibung der Position 2843, 2846 oder 2852 entsprechen, zu diesen Positionen gehören, auch wenn andere Positionen dieses Abschnitts in Betracht kommen. Der in dieser Anmerkung ausgesprochene Vorbehalt kommt im Streitfall nicht zum Tragen, da die in Rede stehende Ware nicht den Warenbeschreibungen der Positionen 2844 oder 2845 entspricht. Auch die Anmerkung 2 des Abschnitts VI, wonach vorbehaltlich der Anmerkung 1 Waren, die wegen ihrer Dosierung oder wegen ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf – u.a. – zu der Position 3006 gehören können, dieser Position zuzuweisen sind, auch wenn andere Positionen der Nomenklatur in Betracht kommen, greift im Streitfall nicht. Bei der Anmerkung 2 zu Abschnitt VI handelt es sich um eine subsidiäre Anmerkung, die Erzeugnisse der Positionen 2843 bis 2846 und 2852 von ihrer Anwendung ausdrücklich ausnimmt.
(Stand: 01.07.2021)